BHSA kritisiert Städte- und Gemeindebund NRW

Stellungnahme der BHSA e.V. zur Pressemitteilung des Städte- und Gemeindebund NRW vom 28.07.2004

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hörbehinderter Studenten und Absolventen e.V. (BHSA) weist die negative Kritik von Dr. Bernd Jürgen Schneider, Hauptgeschäftsführers des Städte- und Gemeindebunds Nordrhein-Westfalen, an der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik (BITV-NRW) entschieden zurück. „Herr Dr. Schneider reduziert die Bedeutung barrierefreier Webseiten auf sogenannte behindertengerechte Internet-Angebote. Tatsächlich aber profitieren alle Nutzer von der Einhaltung der Anforderungen der BITV-NRW.“ erlätutert Martin Stehle, Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstands der BHSA. Die Behindertenverbände haben eine maßgebliche Rolle an der BITV gespielt. Doch die BHSA ist der Meinung, die bessere Bedienbarkeit barrierefreier Webseiten für alle Internet-Nutzer sei so offensichtlich, dass Stehle, langjähriger Experte für barrierefreie Webseiten, den Nutzen für behinderte Menschen eher als „erfreulichen Nebeneffekt“ sehe. „Nehmen Sie als Beispiel eine Rampe oder einen Aufzug am Bahnsteig: Ursprünglich wurden Rampen und Aufzüge von Rollstuhlfahrern eingefordert. Doch diese Gruppe fällt klein aus gegenüber dem großen Anteil an älteren Menschen und jungen Radfahrern, die diese Hilfen als selbstverständlich angenommen haben.“

Die von Herrn Dr. Schneider geäußerte Kritik an der BITV-NRW hält Stehle für unangemessen. „Es ist richtig, dass einzelne Anforderungen der BITV auch unter Experten umstritten sind.“ stellt Stehle, der unter www.webaccessibility.de mehrere hundert Links zum Thema veröffentlicht, fest. Die Folgerung von Schneider, man hätte besser den Betreibern der Internet-Auftritte vertraut, lehnt die BHSA jedoch ab. „Dann würde jeder Betreiber sein eigenes Süppchen kochen, zum Nachteil der Nutzer. Das ist, als würde jede Stadt eigene Verkehrsregeln aufstellen. Die BITV dagegen schafft eine einheitliche Richtlinie und damit Vertrauen bei den Nutzern.“ Außerdem sei es kurzsichtig, aufgrund weniger Fehler die BITV ganz zu kippen. „In der BITV steckt viel Erfahrung und Wissen drin. Trotz ihrer Mängel erfährt die BITV bei Experten, Behindertenverbänden und durch den Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW, ehemals Dt. Multimedia-Verband) eine große Unterstützung. Die BITV sieht eine Überarbeitung der Anforderungen Ende 2005 vor. Dann kann auch Herr Dr. Schneider Verbesserungsvorschläge einreichen.“

Das Argument, barrierefreie Webseiten würden für den Betreiber „zusätzlichen Programmier-Aufwand und hohe Kosten“ verursachen, relativiert Stehle. „Die Erfahrung zeigt: Maximal 10% mehr kostet eine barrierefreie Website gegenüber einer herkömmlichen. Das ist die kurzfristige Kalkulation. Die langfristige zeigt außerdem, dass Folgekosten gespart werden und dass das Verhätnis des Nutzen zu den Ausgaben weitaus besser ist.“ Stehle führt das darauf zurück, dass eine barrierefreie Website für mehr Nutzer erreich- und bedienbar ist und kostspielige Anpassungen auf neue Technologien nicht anfallen. „Abwärtskompatibilität und Zukunftssicherheit erreicht man mit barrierefreien Seiten. Man spart Geld und hat gleichzeitig eine höhere Nutzerzufriedenheit.“

Schneiders Vision, Städte und Gemeinden würden aus Geldmangel ihre Internet-Auftritte reduzieren, hält die BHSA für unwahrscheinlich. Die BITV verpflichte niemanden zu einem Webauftritt. Die Betreiber haben jetzt fünf Jahre Zeit, bestehende Auftritte BITV-konform zu entwerfen. Es ist absehbar, dass in dieser Zeit auch ohne eine BITV viele Relaunches passieren und neue Websites entstehen würden. Die Vorgabe, dabei die Richtlinien der BITV einzuhalten, macht die Websites nutzerfreundlicher.

Dass Kostenargumente angeführt werden, verärgert Stehle: „Die Interessen behinderter Menschen gegen angebliche Mehrkosten auszuspielen ist diskriminierend. Sie steht außerdem im Widerspruch zur selbstauferlegten Pflicht des Landes, behinderte Menschen am öffentlichen Leben teilhaben zu lassen.“ Am bereits genannten Beispiel der Rampen und Aufzüge verdeutlicht Stehle: „Lösungen für behinderte Menschen kommen in vielen Fällen allen Menschen zu Gute und sind daher kein rausgeworfenes Geld.“ In Anbetracht der demografischen Entwicklung hin zu einer Gesellschaft, in der in Zukunft mehr ältere und damit körperlich eingeschränkte Menschen als bisher leben werden, sieht Stehle jede Investition in Barrierefreiheit als Einsparung teurer Umbaukosten.

Der Aussage Schneiders, im persönlichen Kontakt sei Behinderten bei ihrem Bemühen, Information zu erhalten, meist besser zu helfen als übers Internet, sieht Stehle als unerwünschte Bevormundung: „Herr Dr. Schneider übersieht dabei, dass das Internet für behinderte Menschen auch eine große Hilfe sein kann. Der Vormarsch von e-Government im Kontakt zwischen Kommune und Bürgern ist ein Argument für einen vollständig barrierefreien Internet-Auftritt, damit die Dokumente der Behörde für alle Nutzer online erreichbar sind.“ stellt Stehle fest. Er fragt sich außerdem: „Wenn Herr Dr. Schneider die Vorgabe der Verordnung nach ‚allgemein leicht verständlichen Inhalten‘ als eine ‚Selbstverständlichkeit‘ und Barrierefreiheit als ‚ein hohes Gut‘ beschreibt, warum moniert er, dass das jetzt mit der BITV einklagbar sei?“

„Bereits seit einem Jahr ist die BITV für Bundesbehörden verbindlich.“ beschreibt Stehle die rechtliche Situation. Eine bundesweite Einheitlichkeit der Landes-BITVen ist das Ziel, dass die BHSA erreicht sehen möchte. Sie würde es sehr begrüßen, wenn jedes Bundesland sich an der BITV des Bundes orientieren würde. Das Land NRW hebe sich positiv hervor, da seine Landesverordnung darauf ausgerichtet sei. Der Hinweis Schneiders, der Verweis auf die Bundes-BITV mache keinen Sinn, weil sie nicht erfüllbar und veraltet sei, geht für Stehle an der Sache vorbei: „Schließlich haben auch andere Staaten wie die USA, Australien und Großbritannien gesetzliche Richtlinien erlassen, die der BITV sehr ähnlich sind, fast schon 1:1 übereinstimmen.“ Die internationale Bedeutung ist für Stehle Hinweis darauf, dass die BITV praktische Relevanz hat: „Die NRW-BITV halte ich für vorbildlich. Einen Gegenvorschlag für ‚richtige Barrierefreiheit‘ hat Herr Dr. Schneider bisher noch nicht gemacht.“

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Hörbehinderter Studenten und Absolventen e.V. (BHSA) ist eine Selbsthilfegruppe hörbehinderter Menschen im Studium und anschließendem Berufsleben. Ihr Ziel ist es, die Bedingungen für Hörgeschädigte in den Hochschulen und im Berufsleben zu verbessern. Mit 250 Mitgliedern ist sie Europas größte Selbsthilfegruppe für hörbehinderte Studierende und Absolventen.

Berlin, 29.07.2004

i.A. Martin Stehle


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